· 

Herzenhören

Herzenhören ist der Titel eines wunderschönen Buches von Jan-Philipp Sendker. Ein passender Titel auch für das, was mich heute bewegt. Das eigene Herz hören. Nein, nicht den Herzschlag oder nicht nur den eigenen Herzschlag, sondern die Regung der Seele, die sich über unser Herz ausdrückt.

Oftmals treffen wir Entscheidungen aus rationalen, vernünftigen oder logischen Gründen. Wir denken an die möglichen Folgen, errechnen uns wahrscheinliche Konsequenzen und wähnen uns in Sicherheit alles gut bedacht zu haben. „Be-dacht“ hört sich an wie ein Dach drauf setzen und genau das tun wir oft auch. Wir setzen einen Deckel auf das, was sonst noch in uns ist.

Gefühle. Manche Menschen entscheiden „aus dem Bauch“ heraus. Das kenne ich persönlich besonders gut 😊 Besonders die impulsiven Entscheidungen (Aber Impulsivität ist ein anderes Thema).

 

Ich erinnere mich besonders eindrücklich an eine Entscheidung, die ich mit dem Verstand getroffen hatte. Ich hatte entschieden weiter in der Schweiz zu bleiben und an einer Weiterbildung zur Intensivfachkraft teilzunehmen. Ich arbeitete damals als Krankenschwester am Unispital in Zürich. Die Arbeitsbedingungen waren deutlich besser als in Deutschland, Fortbildungsmöglichkeiten ebenso, ganz zu schweigen vom Gehalt. Die Schweiz ist wunderschön. Ich genoss meine freien Tage mit Kurztrips in die Berge, zum Skifahren, nach Italien etc. Also warum nicht?

Am Tag nach der Abgabe meiner Bewerbung ging es mir hundeelend. Mein Bauch war verkrampft. Alles hatte sich in mir förmlich zusammengezogen. Mein Körper schien diese Entscheidung rundweg abzulehnen. Ich zog die Konsequenz und marschierte los, um meine Unterlagen zurückzuziehen. Gesagt getan, aber mein Verstand ließ nicht locker.

Ein Teil von mir war total überzeugt, dass es der richtige Schritt sei. Vielleicht passten nur die Bedingungen nicht. Vielleicht sollte es nicht Zürich sein. Nun gut, ich bewarb mich stattdessen an einem kleinen Haus, ich erinnere mich nicht einmal mehr genau an den Ort. Aarau, war es, glaube ich. Ich bekam einen Platz und dieses Mal gab es keine heftige Reaktion. „Nur“ ein leichtes Unwohlsein. Ich kündigte also in Zürich, um 3 Monate später am anderen Ort mit der Weiterbildung zu starten. Dazwischen wollte ich eine Pause in Griechenland einlegen, inklusive  Intensiv Sprachkurs in Thessaloniki.

Und dann passierte das, was ich als Herzenhören verstehe.

Ich flog nach Thessaloniki. Abgeflogen vom schicksten Flughafen, der mir je begegnet ist. Vitrinen, mit den teuersten Luxusgütern. So habe ich ihn in Erinnerung. Dann Ankunft in Thessaloniki. Ein Riesen Tohuwabohu im Flughafengebäude. Lautstark redende und gestikulierende Menschen, pulsierendes Leben statt höflicher Zurückhaltung. Der Taxifahrer eröffnet eine dritte Spur, wo gar keine vorgesehen ist. Ich grinse, lehne mich entspannt zurück, fühle mich angekommen und in mir ist plötzlich Klarheit: „Ich gehe nicht in die Schweiz zurück!“

Das war nicht der Verstand, auch nicht der Bauch. Da war eine plötzliche glasklare Gewissheit, die tief aus meinem Innern kam. Es brauchte eine andere Umgebung, in der ich mich wohl fühle, um mich von der Stimme meines Herzens berühren zu lassen.

In den nächsten Tagen sagte ich alles in der Schweiz ab. Da war kein Zweifel mehr. Die Würfel waren gefallen.

 

In einem Text von Gerald Hüther (Maik Hosang/Gerald Hüther(Hg.) Die Metamoderne. Neue Wege zur Entpolarisierung und Befriedung der Gesellschaft, V&R, 2024) schreibt er „Leider haben sehr viele Menschen gelernt, sich in ihrem Innern nicht mehr so leicht berühren zu lassen.“ Dieser Satz war mal wieder so ein Erkenntnissatz, wo es pling in mir macht.

 

Ja, genau, das ist es. Warum ist das so? Und wie so häufig, liegt die Ursache in unserer Kindheit.

Wir alle haben da Störungen erlitten. Lassen wir das Wort Trauma mal weg. Es ist so groß, auch wenn Trauma, wie ich in meinem letzten Blog erwähnt habe, ja, eigentlich schlicht Verletzung bedeutet. Sprechen wir also von Störungen. Dieses Wort ist nicht so vorbelastet. Es gibt vermutlich niemanden, dessen Aufwachsen komplett ohne Störungen verlief. Denn das ist das Leben und aus spiritueller Sicht, sind es vielleicht genau diese Störungen, die zu den Erfahrungen führen, die zu machen wir auf dieser Erde gelandet sind. Anderes Thema 😉

Unsere Persönlichkeit bildet sich durch die Erfahrungen, die wir machen.

Ein Kind, das in seiner Ursprungsfamilie herzlich willkommen ist, dessen essenzielle Bedürfnisse von seinen Bezugspersonen zumeist befriedigt werden und das liebevoll in seinen Erkundungen des Lebens begleitet wird, ohne eingeengt zu werden, bei angemessenem Schutz, startet mit einer guten Basis an Vertrauen, Verbundenheit und Autonomiefähigkeit ins Leben.

Ganz anders, wenn das Kind unerwünscht ist, seine Bedürfnisse nicht immer oder auch mal gar nicht befriedigt werden, wenn es reglementiert oder nur verwahrt wird, wenn es lästig ist und womöglich bestraft wird, wenn es sich nicht wie gewünscht verhält. Hier wird Unsicherheit, Misstrauen und Angst gesät.

Immer entwickeln wir Strategien, um zu überleben. Im Kleinkindalter geht es ja tatsächlich um das blanke Überleben. Wie verhalte ich mich am besten, um möglichst etwas, von dem, was ich brauche zu bekommen? Still sein, lieb sein, fleißig sein, „gut“ sein, „perfekt“ sein, ruhig oder lebhaft… je nachdem, was die besten Erfolgsaussichten verspricht.

Und was geht darüber verloren? Vor lauter scannen, was denn angebracht ist (was im Übrigen enorm viel Energie verbraucht), verlieren wir den Kontakt zu unseren Bedürfnissen. Das geschieht völlig unbewusst. So entsteht unsere Persönlichkeit, neben dene Anteilen unserer mitgebrachten Anlagen natürlich. Aber wir alle machen Erfahrungen, die Konsequenzen haben. Habe ich schon öfter drübergeschrieben.

 

Unsere Gesellschaft hat den Verstand und die Wissenschaft zudem zum Spielführer auf dem Platz erhoben. Was nicht wissenschaftlich nachgewiesen ist, ist Humbug, um es kurz zu sagen. Wir haben vergessen, dass es auch andere Parameter gibt.

Der Verstand ist ein großartiges Werkzeug für viele Tätigkeiten, aber zum Herrscher über das Leben eignet er sich nicht. Das ist ungefähr so, als würden die Airbags im Auto über den Weg bestimmen. Auch Bremse und Gas können das nicht, das kann man vielleicht mit den Gefühlen vergleichen. Und wenn du jetzt denkst, klar, aber der Motor kann das, oder was? Denn der ist ja am ehesten mit dem Herzen vergleichbar.

Nee, auch der kann das nicht. Aber wenn der nicht beteiligt ist, geht gar nichts.

Den Rest des Jobs dürfen immer noch wir selber machen. Wir dürfen uns bewusst machen, was denn gerade mit uns spricht.

Ist es der Verstand, der meist unüberhörbar laut brüllt?

Ist es das Gefühl, in dem wir uns so unangenehm verloren fühlen und am liebsten schnell weg haben wollen?

Oder ist es das Herz, das eher leise spricht. Kannst du es hören? Kannst du dir den Raum und die Stille geben, dein Herz zu hören?

Wie spricht dein Herz zu dir?

Meines spricht manchmal durch spontane Tränen und Gänsehaut Flashs zu mir. Wenn das passiert, weiß ich: Ahhh, da hat mich etwas tief im Innen berührt. Da ist Wahrheit.

Es gibt viel zu entdecken in der Tiefe unseres Herzens. Ja, da sitzt auch alter Schmerz, den wir luft- und wasserdicht verpackt und dann noch supergut versteckt haben, um ihm auf gar keinen Fall jemals wieder zu begegnen. Eine Mauer drumherum haben wir sicherheitshalber auch noch hochgezogen. Alles unbewusst und meist sehr lange her.

Heute als Erwachsene kommt da manchmal etwas in unser Leben, das dem Versteck unseres Schmerzes bedrohlich nahekommt. Etwas, das uns erinnert an ein unerfülltes Bedürfnis oder eine ungestillte Sehnsucht. Und das deshalb eine spontane, ganz automatische, unbewusste Reaktion hervorruft. Auch wenn wir keine Ahnung haben, was wir da tun. Unser Körper weiß es genau. Er weiß genau, was er tun muss. Er erinnert sich. Schutzmechanismus wird aktiviert. Die Mauer nochmal verstärkt und alles ist gut.

Ist es das?

Nein, natürlich nicht. Mit jedem Schutzmechanismus schneiden wir uns mehr ab von den tiefen Gefühlen. Das ist gewollt für die schmerzhaften Gefühle, aber es schneidet uns ebenso sehr von allen positiven tiefen Gefühlen ab.

Und das Herz weint. Es sitzt in seinem Versteck und weint, weil wir es wieder nicht gehört haben, weil es sich nicht so ausdrücken kann, wie es möchte, weil es sich nicht entfalten kann.

Kennst du dieses Gefühl von unbändiger Freude, von unendlicher Liebe, die dich die ganze Welt umarmen lassen könnte, von überfließender Dankbarkeit für alles, was ist, was war und was sein wird?

Nein? Dann ist es höchste Eisenbahn, dich auf den Weg zu deinem Herzen zu machen. Es wartet sehnsüchtig darauf, dich mit all seinen Gaben zu beschenken.

Auf geht’s. Das Leben ist ein kostbares Geschenk. Nimm es an!

Und wenn du so gar keinen Plan hast, wie du da denn hinkommen könntest, melde dich gerne. Ich habe gerade auf mein Herz gehört und mich von den üblichen Strategien in Sachen Honorar verabschiedet. Das wollte mein Herz schon immer so, aber mein Verstand war zu mächtig. Jetzt hat er Sendepause 😉

 

Herzlichst Kirsten