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Über Hochsensibilität und Traumafolgen

Das Thema Hochsensibilität brachte eine Mutter, mit der ich beruflich zu tun hatte, in mein Leben. Sie vermutete, dass ihr Sohn hochsensibel sei. Im ersten Moment stöhnte ich innerlich auf und dachte "Was ist das jetzt wieder für eine neue Mode Diagnose?". Ich war gerade erst aus Afrika zurück und hatte so einiges an Entwicklung im Land nicht mitbekommen. Konnte also gut sein.

 

Zuhause googelte ich dann, fand Infos zu der US amerikanischen Psychologin Elaine Aron, die das Thema publik gemacht hatte und machte spaßeshalber selbst einen angebotenen Test. Und siehe da, zu meinem großen Erstaunen schien es mich selbst zu betreffen. Ich bin neugierig, wissbegierig, lese gerne und viel, also besorgte ich mir sofort das erste, dann das zweite, dann das dritte Buch... und hatte einen Haufen Aha Erlebnisse.

 

Plötzlich wurde mir soooo Vieles klar.

Ach, deshalb hatte ich mich immer etwas am Rande und außen vor gefühlt,

deshalb wurde mir schwindlig in Kaufhäusern,

deshalb war ich völlig erschöpft, wenn ich unter vielen Menschen gewesen war,

deshalb fühlte ich die Stimmung im Raum buchstäblich am eigenen Leib,

deshalb war ich so wenig zu Smalltalk in der Lage und vermied ihn wenn möglich,

deshalb war ich eigentlich immer auf der Suche nach Sinn, brauchte eine Art höheres Ziel bei allem was ich tat und so weiter.

 

Hochsensibilität ist komplex. Die einen sind eher sensitiv in der Wahrnehmung, sehr unterschiedlich auch bezogen auf die Sinne. Manche sind sehr introvertiert, andere dennoch extrovertiert. Vom "high sensation seeker" ist die Rede und vieles mehr. Es lohnt sich, da mal genauer hinzuschauen. Hier ein paar Bücher Tipps: "Sind Sie hochsensibel?" von Elaine Aron; "zart besaitet" von Georg Parlow; "Hochsensitiv: einfach anders und trotzdem ganz normal" von Birgit Trappmann. Ebenso interessant "Hochsensibilität und die Liebe" auch von Elaine Aron.

 

Allen sehr ähnlich scheint die gefühlte Außenseiterrolle. Es muss gar nicht so sein, dass man tatsächlich Außenseiter ist. Es ist die innere Wahrnehmung, sich nicht dazugehörig und nicht verstanden zu fühlen.

 

Worum geht es? Ganz knapp zusammengefasst geht es um eine größere Offenheit für Reize aller Art. Wenn mehr Reize aufgenommen werden, müssen auch mehr Reize verarbeitet werden. Das führt zu Überforderung und in der Folge zu weniger Belastbarkeit, schnellerem Ermüden etc.. 15-20% der Bevölkerung sollen hochsensibel sein, so die Erkenntnisse von Elaine Aron.

 

Was hat das Ganze jetzt mit Trauma zu tun?

Kurz war mir einmal ein Satz ins Auge gesprungen. "Hochsensibilität kann eine Folge von Trauma sein" und etwas in mir ging in Resonanz dazu. Konnte das sein? Trauma war ebenfalls "mein" Thema.

 

Ich steckte mitten in der Verarbeitung einer toxischen Beziehung -narzisstischen Missbrauchs genau genommen. Die Erkenntnis, dass die vermeintlich große Liebe dunkle Schattenseiten verborgen hatte, die ich lange nicht realisiert und dann nicht wahrhaben wollte, wog schwer. Ich flog auseinander, mein kleines ICH zerbarst gefühlt in tausend Stücke. Depression und Dissoziation waren die Folgen. Eine lange Phase der Stabilisierung und Aufarbeitung folgte. Dann auch die Erkenntnis, selbst "weiblich narzisstisch" gewesen zu sein, ein weiterer Schock, den ich erstmal verdauen musste. In der Therapie durfte ich hinschauen lernen, mein Familiengefüge durfte ich unter die Lupe nehmen und letztendlich erkennen, dass die toxische Beziehung nur möglich war, weil ich bereits sehr früh ein entsprechendes Selbstbild entwickelt hatte, schon früh wirkliche Bindung verloren hatte und so eigentlich immer auf der Suche nach Sicherheit, Schutz und Verbundenheit war. Ich war auf der Suche nach der einen großen Liebe, dem Märchenprinzen, der mich rettet und alles wird gut. Die perfekte Partnerin für einen Narzissten. Das Thema "toxische Beziehung/Narzissmus" ist wieder ein besonderes und werde ich veilleicht zu gegebenem Zeitpunkt aufnehmen.

 

Hier soll es jetzt um den Zusammenhang von Trauma und Hochsensibilität gehen.

 

Falsche Glaubenssätze entstehen durch Traumatisierungen. Ich habe dazu bereits einen Blogartikel geschrieben. Die zarte Seele eines Kindes ist schnell überfordert. Kinder sind völlig abhängig von ihren Bezugspersonen. Wenn dann nicht die Unterstützung erfolgt, die ein Kind in Not braucht und schlimmer noch, Abwehr und/oder sogar Verachtung erfährt, können daraus  "Überlebensmechanismen" entstehen, die sich in Form falscher Glaubenssätze über unsere Identität verfestigen und uns ein Leben lang begleiten.

 

Und hier ist die Verbindung:

Traumatisierte Menschen sind immer auf der Hut.

Niemand möchte eine als überwältigend empfundene Situation wiedererleben. Um uns zu schützen, sorgt unsere Psyche dafür, dass wir uns (nicht zwangsläufig bewusst) erinnern, wann auch immer etwas geschieht, das der Situation aus der Vergangenheit ähnlich sieht. Diese Ähnlichkeit kann sich auf einzelne Elemente der Situation beziehen wie Musik, Geräusche im Allgemeinen, Düfte, Farben, einen ähnlichen Ort, eine ähnliche Stimme und vieles mehr. Es kann passieren, dass unser inneres Alarmsystem anspringt, wenn uns ein ähnliches Element begegnet, das aber absolut nicht an sich gefährlich ist. Mir ist das mal mit einer lauten Männerstimme passiert. Plötzlich schlug mein Herz höher, ich geriet in völlige Anspannung und innere Panik, nur aufgrund dieser lauten Männerstimme.

 

Nicht alle Traumatisierungen stehen unserer bewussten Erinnerung zur Verfügung. Auch das ist ein Schutzmechanismus unserer Psyche. Zu überwältigende Erlebnisse werden verdrängt, aber der Körper erinnert sich trotzdem. Und...ich komme wieder darauf zurück: Er ist immer auf der Hut. So entsteht die Reizoffenheit. Wenn mein System gelernt hat, dass die Außenwelt nicht wirklich beschützend und sicher ist, muss es aufpassen. Es muss alle Antennen offen haben, um mitzubekommen, wenn Gefahr drohen könnte. Manchmal schießt es mit seinen Alarmmeldungen über das Ziel hinaus. Frei nach dem Motto: lieber einmal zuviel, als einmal zu wenig aufgepasst.

 

Für mich ist das absolut plausibel. Vorher hatte ich geglaubt, die Hochsensibilität von meiner Mutter geerbt zu haben. Aber als Kriegskind -ausgebombt, zu Verwandten auf's Land geflüchtet, Hunger leidend, der Vater an der Front- ist sie ein traumatisiertes Kind gewesen. Das hat Folgen. Für sie und in ihren Beziehungen, eben auch zu mir und meiner Schwester als Kindern.

 

Wir Menschen sind fühlende Wesen. Manche sind mehr, andere weniger widerstandsfähig. Manche pustet schon ein Windhauch um, wie die Samen der Pusteblume auseinanderfliegen, andere stecken wirklich heftige Erlebnisse weg. Traumafolgen müssen nicht auch zu Traumafolgestörungen werden. Das Leben lädt uns ein immer wieder zu schauen, was uns gut tut und wir dürfen uns wehren, wenn unsere Grenzen überschritten werden. Wir müssen nicht alles aushalten, nicht immer durchhalten.

Für alle Menschen, egal ob sie hochsensibel sind oder nicht (und auch egal warum sie das sind), ist es essentiell Selbstfürsorge zu betreiben. Wenn wir das nicht tun, werden wir irgendwann zwangsläufig krank. Physisch und/oder psychisch und wer will das schon?

 

Um für mich gut sorgen zu können, muss ich meine Bedürfnisse und Grenzen aber zunächst einmal bewusst wahrnehmen. Diese Wahrnehmung haben viele verlernt.  Ich durfte das selbst auch wieder lernen und freue mich jetzt andere auf ihrem Weg zurück zu sich begleiten zu dürfen. Der Weg ist das Ziel 😇

In Dankbarkeit 🧡, Kirsten

 

P.S.: Traumatherapie ist ein weiteres Thema und ein besonderes, weil eine "normale" Psychotherapie nicht unbedingt geeignet ist. Ich möchte dazu Dami Charf und ihren Ratgeber   "Wie man einen guten Psychotherapeuten findet" empfehlen. Auch dazu vielleicht später mehr.